Weihnachtskrippe in der Franziskanerkirche, Neisse-Rochus
"Jeweils am heutigen 20. Dezember feiere ich seit über acht Jahrzehnten meinen Geburtstag. So kurz vor Weihnachten, am Ende der Adventszeit, ist dieser Tag alljährlich ein Anlass zur Rückbesinnung auf ein langes Leben - zurück bis zur frühen Kindheit. Eine unvergessliche Begebenheit ereignete sich damals „alle Jahre wieder", von der ich erzählen möchte.
Meine Geburtsstadt ist Neisse in Oberschlesien. Was heute nur noch alte Schlesier wissen: die Stadt führte den Beinamen „Das Schlesische Rom" und war über fünf Jahrhunderte Sitz eines Fürstbistums, in dem der Breslauer Bischof praktischerweise sowohl geistliches als auch weltliches Oberhaupt war und nach der Reformation, als Breslau protestantisch wurde, sogar den Bischofssitz nach Neisse verlegte. Kein Wunder also, dass sich bis zur Säkularisation 1810, als der Kirchenbesitz weitgehend enteignet wurde, in Neisse mit seinen damals 7.700 Einwohnern sieben Klöster und zehn Kirchen angesammelt hatten. Um dieselbe Dichte an sakralen Gebäuden zu haben, müsste unser Taufkirchen heute bei 18.000 Einwohnern 16 Klöster und 23 Kirchen haben!
100 Jahre nach der Säkularisation siedelte sich nun ein alter Orden wieder mit einer Klosterkirche an, die zur Pfarrkirche unseres Stadtviertels bestimmt wurde. Um ihre neue Kirche zu einem besonderen Anziehungspunkt an Weihnachten für Jung und Alt, besonders für die Kinder, zu machen, schufen die Franziskanermönche in wenigen Jahren nach und nach eine riesige Weihnachtskrippe mit beinahe lebensgroßen Figuren und realistischer Landschaft. Die Krippe füllte den Kirchenraum in seiner vollen Breite aus und war jedes Jahr in der Weihnachtszeit die vielbesuchte Attraktion nicht nur für die Katholiken, sondern auch für die Protestanten und sogar für etliche „Gottgläubige" (die NS-nahe Konfession) und Atheisten.In der Adventszeit 1944 wurde die Krippe zum letzten Mal von den deutschen Mönchen aufgebaut. Wenige Wochen später nahmen die Russen die Stadt und das Kloster ein. Sechs der elf Mönche verloren dabei ihr Leben, weil sie in ihren braunen Kutten für verkappte deutsche Soldaten gehalten wurden; fünf Mönche konnten sich retten. Die Krippe blieb - jedenfalls teilweise - erhalten und wird in der Weihnachtszeit in etwas anderer Form immer noch aufgebaut. Zur Freude genauso wie früher der deutschen, so heute der polnischen Kinder stapft das schwerste und größte Highlight, der berühmte Elefant, weiter freundlich rüsselschwenkend durch die Landschaft auf das Christkind zu.
Clemens Pick
Text: Clemens Pick
Bildnachweis: Historische Postkarte von der Weihnachtskrippe, Franziskanerkirche, Neisse-Rochus. Archiv der polnischen Nationalbibliothek, Abbildung gemeinfrei
Türchengrafik: S.Terme